Unerfahren, unerlebt 10.000 Meter über Sibirien spüre ich die Größe des Unerlebten. Nach dem geschäftigen Gewimmel in den Straßen von Tokyokohama, harmlos hektisch, dennoch nervend, wirken die Weiten des wilden Ostens beruhigend und aufregend zugleich. Leer scheint die Taiga nach Japans Metropolen. Keine eckigen Lichtungen keine schnurgeraden Schneisen zeichnen das Land als bewohnt und befahren. Ein kleiner Ort an der einzigen Straße zwischen zwei weit entfernten Gebirgen, weckt unerwartete Neugier. Wo die dünne Linie einen Knick macht liegen ein Wassertank, ein Dutzend Dächer, ein glitzernder Teich. Vielleicht nur Tränke, Bordell und Schusterwerkstatt für die tapferen Hüter der Raketensilos in den hohen Bergen? Die geweckte Neugier räkelt sich wach. Gibt es dort unten Fallensteller, Jäger? Förster oder Landvermesser? Sitzen am Abend die Alten eingemummelt auf der Bank vor'm Haus? Leben dort Eingeborene, Zugezogene. Ausgestoßene, Weggelaufene? Fliegen die Kinder zur Schule im Flugzeug oder unterrichtet die Frau des Feldschers im Kulturhaus eines Forstbetriebs? Schreien dort Babies in der Nacht? Hört man im Winter die Wölfe am Wald? Macht man am Abend Musik im Quartett? Träumt man von Rio oder Paris? Bei dem Versuch, sich die kleine Welt da unten vorzustellen wächst der Wunsch, ausgerechnet am Knick der Taigapiste zwischen nirgendwo und irgendwo das Leben zu erleben. Viel mehr als jeder Shinto-Schrein und mehr noch als jeder wohlriechende Tempel des disziplinierten japanischen Buddhas und selbst mehr als das pralle Leben in den Millionenstädten reizt mich jetzt das winzige bewohnte Fleckchen in dem weiten Land mit seinen mächtigen Wäldern, Bergen und Strömen. Hans Uszkoreit 2001 |
||